England 2010

Auf der Themse mit dem Boot nach Oxford

Nachdem mir vor ein paar Jahren das tolle Buche von Jerome Klapka Jerome über die Bootsfahrt der „Drei Mann in einem Boot, vom Hund ganz zu schweigen“ auf der Themse von London nach Oxford und zurück in die Hände gelangte, schlief ich seitdem mit dem sehnlichsten Wunsch ein, ihrer Bootsfahrt zu folgen. Jedoch nach mehr als 120 Jahren? Da wird es dort den Fluss vielleicht gar nicht mehr geben – auch wenn in England in dieser Hinsicht absolut alles möglich ist, denn dort achtet man doch noch auf Traditionen, im Bemühen, alles Alte zu erhalten.
Schließlich war der Fluss an seinem Platz, und nicht nur er, sondern auch viele weitere schöne Ecken, Winkel und Sehenswürdigkeiten an den Ufern und es gab viele unvergessliche Erlebnisse.

 

KAPITEL I: Das Boot aus Datchet – Die erste Schleuse – Windsor – Königliches „Wochenendhaus“ – Ein reiches Abendessen

Die schöne „Lady Keeleigh“ – jetzt spreche ich von unserer geliehenen Motorjacht – erwartete uns in Datchet an der Themsenmole, zu der wir also unsere Schritte lenkten, auf der wir unsere Gepäckstücke stapelten, um sie zuallerletzt zu betreten.
„Fehlt euch etwas?“, fragte Kirk, dem das Boot gehörte. „Nein, ist alles O.K.“, antworteten wir und dann stachen wir – ich am Steuerrad, Ludmila steuerbord mit dem Seil und Ajda, wie immer auf das nächste Schaukeln wartend, am Heck – in jene Gewässer, die für die kommenden sieben Tage unser Zuhause sein sollten.
Wir legten stromaufwärts der Themse ab, und zwar wirklich in Richtung Oxford. Binnen weniger Minuten probierten wir die erste Schleuse und gingen anschließend in Windsor vor Anker. Es war am späten Nachmittag. Hier ist es unmöglich, zumindest von außen, den „Wochenendsitz“ der englischen Königin – Windsor Castle – nicht zu besichtigen. Dies ist nicht irgendein „Haus“, sondern das größte und immer noch ständig bewohnte Schloss der Welt. Aber angeblich soll sich die Königin dort nicht allzu häufig aufhalten. Wenn ich so etwas auf dem Lande hätte, würde ich dem trüben London auf immer ade sagen.
Der heutige Tag war hinsichtlich des Reisens anstrengend, sodass uns nicht viel Zeit für das Essen blieb. Daher stürzten wir uns zum Abschluss des Tages auf den reichen Schmaus – einfach zweites Frühstück, Abendbrot und ein kleiner Happen zur Nacht in einem. Ludmila kocht schrecklich gern an Bord und überdies entdeckte sie die sehr fein eingerichtete Schiffsküche.

KAPITEL II: Wir legen frühmorgens ab -Die Wälder von Cliveden – Marlow – Die Ruderer in Henley

In der Früh standen wir etwas eher auf, im Bewusstsein dessen, dass uns bis Oxford noch viele Stunden Bootsfahrt bevorstehen. Maidenhead passierten wir rasch und erst zwischen der Boulterer und Cookhamer Schleuse mäßigten wir das Tempo und genossen die umliegende Frühjahrsszenerie: Die Clivedener Wälder reichen hier bis an die Ufer und bilden eine schattige Kulisse in zahlreichen Mäandern des Flusses. Auch wenn wir angesichts der Außentemperatur eher eine sonnige Kulisse bevorzugt hätten.
Am frühen Nachmittag ankerten wir in Marlow, damit „Ajda sich zumindest etwas strecken konnte“. Es war ein angenehmer Spaziergang, auch wenn dieses altehrwürdige Städtchen viel von seinem einstigen Kolorit verlor, vielleicht auch durch jene, in die alten Häuser eingelassenen modernen „Markengeschäfte und Fastfoods“.
Zur Nacht gingen wir unweit von Henley vor Anker, wenige zig Meter unterhalb der Marsh-Schleuse. Henley seine Ruderregatta im Juni berühmt – und die zahlreichen Ruderer, denen wir während der Fahrt ausweichen mussten, schienen dieses Ereignis ankündigen zu wollen.

KAPITEL III: Regen und ein trauriger Fluss – Ludmila hegt Zweifel – Betrachtung zu den Schleusen

Bereits in der Nacht weckte uns das Trommeln des Regens auf dem Dach des Bootes aus dem Schlaf. Und als wir ausliefen, schien der Regen noch an Stärke zu gewinnen. Wir trieben ohne Interesse an der Umgebung, erfasst von dem Verlangen, wieder um eine Schleuse voranzukommen. Als ob wir geahnt hätten, dass irgendwo weiter vorn ein klarer Himmel und etwas Sonne zu finden sein werden … Denn jener Fluss ist nämlich, wenn die Kälte des Wassers und eine aufdringliche Feuchtigkeit emporsteigen, wenn auf seine Oberfläche pausenlos schwere Regentropfen prasseln, eine Wasserstraße voller Melancholie und allgemeiner Trauer. Es goss bis zur Mapledurhamer Schleuse in Strömen. Dort hörte der Regen auf, damit ein umso stärkerer und kälterer Wind aufkommen konnte. Jedoch in einem Klima, wie es in England ist, dem Wetter zu unterliegen, wäre für den Fall künftiger Wasserfahrten höchst unseliger Präzedenzfall.
Wohl auch unter dem Eindruck dieses miesen Wetters begann Ludmila, daran zu zweifeln, dass wir es bis zum besagten Oxford überhaupt schaffen. Ich sagte ihr auf Kapitänsart: „Wir müssen, … und ich will kein Wort mehr darüber hören“.
Ab Cleve gibt es stromaufwärts einen langen Flussabschnitt ohne eine einzige Schleuse. Das ist zwar eine gute Strecke für die Achterboote der Oxforder Internate, wer allerdings die Schleusen als Abwechslung während der Fahrt nimmt – und das nehmen wir – kommt zu kurz. Ich persönlich mag Schleusen sehr, besonders, wenn es nach oben geht. Das ist viel optimistischer als das Sinken. So gelangt man aus den finsteren Tiefen allmählich nach oben zu neuen Ausblicken auf den Fluss, und man wartet, bis sich die Tore öffnen, um seine Fahrt fortsetzen zu können. Die Kammern sind fast gleich, ähnlich ansehnlich gestaltet, geschmückt mit Pelargonien und anderer unterschiedlichster Flora, die Rasen frisch gemäht, die Wärterhäuschen umrankt von Büscheln blühender Wisteria oder von Efeu … na eben England.

KAPITEL IV: Das Gasthaus „Zur Gerstengarbe“ – Frühes Aufstehen – Ein halber Tag in Oxford

Gegen Abend gelangten wir nach Clifton Hampden. Die Anker warfen wir nicht für nichts und wider nichts aus. Der Grund war ein Besuch des Gasthauses „Zur Gerstengarbe“. Deshalb macht wir uns auch gleich auf den Weg dorthin. Und wirklich, das ist die reizvollste und altertümlichste Kneipe an der Themse. Das niedrig aufgesetzte dicke Schilfdach und die vergitterten Fenster erwecken einen Eindruck wie aus einem Märchen. Und wenn man hineingeht, erkennt man, dass auch die Decke der altehrwürdigen Gasthausräume „niedrig gelegen“ sind. Ich stieß mir gleich am Eingang fast den Kopf.
Am Morgen standen wir in der Tat zeitig auf, da wir zu Mittag wirklich in Oxford sein wollten. Es grenzt beinahe an ein Wunder, dass uns das Frühaufstehen – ganz anders als zu Hause – keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Das ganztägige Halten des Ruders, das Laufen über die Schleusen und überhaupt der Aufenthalt an der frischen Luft, das macht müde und treibt einen abends bald in die Federn. Mit dem Gongschlag um zwölf Uhr gingen wir in Oxford vor Anker, um uns dort einen halben Tag aufzuhalten. In Oxford waren wir bereits früher, sodass wir nur ziellos durch die Stadt und ihre Parks schlenderten und zwischen den alten Internatsgebäuden die „von Bildung, Wissenschaft und Kunst getränkte Luft“ einsogen … Außerdem füllten wir unseren Proviant für die nächsten Tage der Bootfahrt auf.

KAPITEL V: Trainierende Studenten – Die Heimreise – Bedienung der Themsenschleuse – „No mooring“

Am Morgen, kurz nach sechs, weckte uns ein von allen Seiten des Bootes erschallender Lärm. Vom Wasser das Quietschen und Planschen der Ruder, vom Ufer die Megafone der auf dem Fahrrad dahineilenden Trainer. Wir guckten nicht schlecht, so früh am Morgen: auf dem Wasser wohl an die zwanzig Achterboote mit Studentencrews in vollem Training. Der Höflichkeit halber, um ihnen nicht in die Quere zu kommen, warteten wir, bis sie nach acht die Boote wegschafften und zum Seminar eilten.
Dann traten wir die Rückreise an, nun bereits bei ziemlich anständigem Wetter. „Nach oben“ bewältigten wir 22 Schleusen, dasselbe erwartet uns stromabwärts. Wahrscheinlich wäre es angebracht, etwas zu ihrem Passieren zu berichten. Man fährt so ziemlich ohne Probleme hindurch. Die meiste Zeit des Tages steht dort eine Bedienung, ich muss betonen – eine sehr hilfsbereite Bedienung. Außerhalb ihrer Arbeitszeit funktioniert an den Schleusen der „Self Service“ mit allem Drum und Dran. Einer von der Besatzung, niemals der Kapitän, muss vor der Kammer aus dem Boot aussteigen und „oben auf der Kammer“ alle Pflichten der Bedienung auf sich nehmen. An den Schalttafeln, an jedem Tor jeweils eine, mit markierten Tasten startet er alle Funktionen der Kammer – vom Ablassen bis zum Einlassen des Wassers oder das Schließen bzw. Öffnen der erforderlichen Tore.
Eine solche nicht sehr nette Aufgabe ist das Auftreiben des nächtlichen Ankerplatzes. Irgendwo bei einer verlassenen Insel vor Anker gehen, die es dort auch gäbe, und weitab von der Zivilisation die Einsamkeit genießen? Vergesst die Romantik. Die Ufer der Themse sind verwuchert, das Dickicht der Bäume neigt sich weit in das Wasser. Sofern man ein höheres und kahles Ufer findet, dass sich für das Ankern zu eignen scheint, ist überhaupt noch nichts gewonnen … dort „leuchtet“ eine Tafel „No mooring“, gewöhnlich mit dem Zusatz „Privat“. Und falls das Ufer noch mehr zum Ankern geeignet ist, vielleicht sogar mit gemähtem Rasen, ist die Aufschrift noch aussagekräftiger: „No mooring. Striktly“. Am zuverlässigsten sind daher die öffentlichen Ankerplätze, die es fast in jeder Gemeinde den ganzen Fluss entlang gibt.

KAPITEL VI: Stromabwärts geht es schneller – Wallingford – Reading – Datchet – Ein Dankeschön für die „Mutter“ Themse

So schwammen wir dann drei Tage zurück. Auch wenn die Themse zumeist faul und gemächlich dahinfließt, beschleunigt die Strömung gelegentlich und spürbar, hauptsächlich unterhalb der Wehre, das Boot, und zwar ohne erhöhte „Anstrengung“ des Motors. Zwischen der Marlower und Cookhamer Schleuse bedauerten wir sehr, keine Segel dabei zu haben. So konnten wir uns nicht von den kleinen Segelbooten inspirieren lassen, die dort auf der Wasseroberfläche trieben. Unser Bedauern war umso größer, dass eine günstige Brise in die richtige Richtung wehte.
Eile war nicht angesagt, denn wir hatten für die gleiche Strecke einen halben Tag mehr. Eine Rast legten wir an jenen Orten ein, die wir auf der Hinfahrt ausgelassen hatten und die uns „im Rückspiegel“ als interessant erschienen waren. Ob es nun Abingdon mit der altehrwürdigen Steinbogenbrücke, das angenehme Wallingford mit einem für das nächtliche Ankern geeigneten Ufer, das größere und modernere Reading oder Maidenhead war, das übrigens ein Haltmachen nicht wert ist. Und schließlich Datchet. Dieser Ort machte uns zum Abschluss eine Freude: Wir fanden dort zwei Originalgasthäuser, „Zum Hirsch“ und den „Herrenhof“. Und wenn ich Original sage und meine, dann bedeutet dies, dass … sie beinahe einhundertzwanzig Jahre an gleichem Ort und unter gleichem Aushängeschild immer noch Bier zapfen und Gäste beherbergen.
„Naja“, sagte ich, als wir am nächsten Morgen Datchet verließen, „das war eine sehr nette Bootsfahrt und ich danke hierfür der alten Mutter Themse von Herzen“. Ludmila nickte und zum Zeichen der Zustimmung bellte auch Ajda.

Sollte Sie diese Erzählung an etwas erinnert haben, hauptsächlich an das oben erwähnte Buch von J.K.J., ist diese Ähnlichkeit nicht zufällig, sondern beabsichtigt. Und vielleicht war auch der Geist jenes Schriftstellers an Bord unseres Bootes zugegen, oder wohl eher war ich derjenige, der im Geiste ständig bei ihrer Fahrt zugegen war. Sei es, wie es sei, ich habe nur die Wahrheit geschrieben. Ja, und dieses Büchlein sollten Sie bestimmt lesen!

 

Mai 2010

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